Fußball als Entlastung von Emotionen

Identifikation und Aggressivität im Stadion

Diesen Text hatte ich 2006 geschrieben, als die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland stattfand. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich seit jenem "Sommermärchen" aber nicht grundlegend geändert. Im Gegenteil, sie sind inzwischen weitaus schwieriger geworden. Das gilt ganz besonders für die augenblickliche politische Situation in Frankreich bei der Europameisterschaft und das ist der Grund, warum ich meinen Artikel noch einmal auf meiner Homepage veröffentliche:

Neptun und Uranus bei der Weltmeisterschaft

Um es gleich zuzugeben: ich bin kein Fußballfan. Ich spiele zwar mit meinen Lehrer-Kollegen einmal in der Woche Fußball und sehe mir auch ganz gern ein Spiel an – aber lieber zu Hause oder bei Freunden und nicht auf der Fanmeile. Die um sich greifende Euphorie bei dieser Weltmeisterschaft, die nationale Begeisterung und die völlig ungewohnte (Fußball-)Einigkeit der Deutschen ("Wir werden Weltmeister"), die nach aktuellen Meldungen inzwischen sogar die Parteien im Bundestag erreicht haben soll, sehe ich eher mit großer Skepsis. Und die ungeheure Kulisse der Arenen, in denen sich die Zuschauer permanent selbst aufzuputschen suchen, macht mir sogar etwas Angst.

Nun ist die allgemeine Emotionalisierung der Massen keineswegs ein deutsches Problem. Wir erleben auch hier nur eine Facette der Globalisierung, was die Sache allerdings nicht einfacher macht. Bevor ich aber nun mit meiner Kritik den vereinigten Zorn aller Fußballfreunde auf mich ziehe, will ich zunächst versichern, daß ich die Vorteile einer solchen Veranstaltung für die Menschen in Deutschland und vielleicht auch für die Völkerverständigung durchaus nicht gering einschätze.

Unser Land steht zur Zeit im Mittelpunkt einer weltweiten Aufmerksamkeit und kann sich als aufmerksamer Gastgeber präsentieren. Nach dem Wiedererstarken und den fremdenfeindlichen  Auftritten der Neonazis, die im Ausland für Verunsicherung gesorgt haben, ist das sicher keine Kleinigkeit für das Image und den Standortfaktor. Hinzu kommen die unzähligen Möglichkeiten für persönliche Begegnungen und Freundschaften in einer aufgelockerten und fröhlichen Atmosphäre, bei privaten Gastgebern zu Hause oder in kleinen Gruppen, die sich  in der City oder in einem Biergarten spontan zusammenfinden. Deutschland bekommt ein internationales, weltoffenes Flair und zeigt nicht sein verbissenes und perfektionistisches, ewig unzufriedenes Gesicht. "Die Welt zu Gast bei Freunden"! Die Deutschen können also auch feiern, sich einfach freuen und ihre Sorgen einmal beiseite lassen – wer hätte das gedacht. Es tut den Menschen sicher auch gut, immer wieder Gleichgesinnte zu erleben, mit denen man dieselben Interessen hat und mit denen man vielleicht sogar (beim Fußball) einer Meinung ist. Das erzeugt ein Gefühl des Angenommenseins und der Geborgenheit. Und daran fehlt es wohl sonst nur allzu oft in der modernen Gesellschaft.

Es gibt aber auch ein großes "Aber", über das gesprochen werden muß, obwohl es nach den augenblicklichen Erfolgen der deutschen Mannschaft immer schwieriger wird, mit diesem "Aber" durchzudringen. Ich frage mich z.B., ob diese Sicht der Dinge nicht zu optimistisch oder ganz einfach zu naiv ist. Dieser Gedanke kam mir, als ich in der Frankfurter Rundschau vom 20. Juni von dem Kulturforscher Klaus Theweleit erklärt bekam, daß das gemeinsame Brüllen im Stadion so etwas wie ein "zivilisatorischer Akt" sei. Da wurde ich doch stutzig. Es ging nicht darum, wie Theweleit ausführte, daß Fußball immer noch besser als Krieg, also das kleinere Übel, sei, sondern um die zivilisatorische Notwendigkeit einer Aggressionsentlastung in einer Gesellschaft, die einen "ungeheuren Überhang von unbearbeiteten Affekten" erzeugt.

Die Gesellschaft ist demnach, wie der Kulturforscher Theweleit zugibt, nicht in Ordnung und der Fußball hilft uns offensichtlich, sie besser zu ertragen. Müssen wir dem Fußball also dafür dankbar sein? In mir regte sich die alte 68-Seele, die schon damals gegen die Manipulation der Bild-Zeitung gekämpft hatte. Ich fragte mich: Ist diese Fußballweltmeisterschaft nicht geradezu ein Musterbeispiel für die Manipulation der Massen im großen Stil? Und kann aus einer solchen grandiosen Manipulation wirklich ein Nutzen für die Gesellschaft entstehen, der auch auf längere Sicht tragfähig bleibt?

Inzwischen etwas besonnener geworden als zu 68-Zeiten, beschloß ich, die Angelegenheit einmal astrologisch zu betrachten. Ich überlegte, welche Energien hier am Werk sind. Nach meiner astrologischen Vorstellung sind das ganz offensichtlich Neptun und Uranus, die in ihrer Polarität ja alle dramatischen Konflikte prägen. Uranus als männliches Prinzip ist der Planet der Freiheit und originellen Selbstdarstellung, Neptun als weibliches Prinzip erzeugt Verschmelzungsbedürfnisse und schafft Identifikationen. Die Wirkungen beider Planetenenergien sind vor allem dann intensiv, wenn sie mit Pluto in Verbindung stehen, der ja alle Energien in der Tiefe der menschlichen Seele befestigt, aber sie damit auch radikalisieren kann bis in den Fanatismus hinein.

Wir haben zur Zeit eine sehr starke Verbindung der neptunischen mit der uranischen Energie: Uranus steht mitten in den Fischen und Neptun ungefähr auf 19° im Wassermann. Es handelt sich also astrologisch um eine Rezeption, dh. die Zeichenherrscher stehen wechselseitig in den Tierkreiszeichen, zu denen sie gehören. Im Grunde haben wir es mit einer verdeckten Uranus-Neptun-Konjunktion zu tun. Kein Wunder also, daß diese Energien auch bei der Fußballweltmeisterschaft eine große Rolle spielen.

Für mich haben sich hier nun folgende Fragen gestellt: Ist diese erregte Identifikation der Fangemeinde mit den Stars in den Arenen bzw. mit ihrem Land, diese ununterbrochene frenetische Begeisterung, eine gesunde Entsprechung der Energien von Uranus und Neptun oder ist daran irgendetwas schief? Haben wir es hier wirklich mit einer ausgeglichenen Balance dieser Energien zu tun oder nicht vielmehr mit einer ungesunden Spaltung der Gesellschaft in hochtrainierte Leistungsträger (Uranus) und passive Nur-Zuschauer (Neptun), die auf eine illusionär-aggressive Art und Weise (Neptun/Uranus) überspielt wird? Es gibt, glaube ich, doch einige Probleme, wenn man versucht, diese Weltmeisterschaft nüchtern astrologisch zu betrachten.
(vgl. das Schaubild Die Balance des gesunden Lebens)

Problematisch ist z.B., daß die Spieler zu Idolen, gewissermaßen zu Fußballgöttern hochstilisiert werden, weil damit die realistische Ebene einer normalen Bewunderung von Vorbildern verlassen wird. In diese Richtung weist bereits die völlig unangemessene Bezahlung der Stars und Trainer und die verrückten Ablösesummen der Spieler, die sogar viele Vereine in den Ruin getrieben haben. In der Realität sind der Reichtum und Luxus der Helden in den Arenen sehr weit von der Lebenswirklichkeit der Zuschauer entfernt, vor allem von denen vor den Großleinwänden in der City.

Problematisch ist weiterhin die totale Kommerzialisierung dieser Weltmeisterschaft sowie die Verstrickung von Verantwortlichen und Journalisten in diesen Kommerz, was durchaus bekannt ist und auch immer wieder beklagt wird. Die FIFA hat darüber hinaus dem Ausrichter Deutschland in der Manier eines Weltkonzerns die Bedingung gestellt, daß die eingenommenen Gewinne (man rechnet mit 1,7 Milliarden Euro) steuerfrei bleiben. Dem deutschen Staat gehen damit etwa 250 Millionen an Einnahmen verloren!

Der eine Pol der Identifikation, die Stars, die Mannschaften bzw. die ganze Organisation der WM, ist also keineswegs so vorbildlich, wie es die Leistungen auf dem Spielfeld vortäuschen und wie man es sich für eine berechtigte Begeisterung der Fans wünschen würde. Es gibt da viel Kritikwürdiges an einzelnen Spielern und an der Veranstaltung als ganzer, was aber im Hintergrund und im Dunkeln bleibt, weil es von der allgemeinen Euphorie überdeckt wird.

Wie steht es aber nun mit dem zweiten Pol der Identifikation, mit der Fangemeinde selbst? Gehen ihr frenetischer Jubel bzw. ihre abgrundtiefe Enttäuschung nicht über das erträgliche Maß hinaus? Wird hier Fußball nicht zu einem Glaubensbekenntnis, gewissermaßen zu einer "Religion"? Ja, vielleicht noch schlimmer, versuchen die Fans nicht, sich mit allen Mitteln (auch mit Drogen) in eine permanente Ekstase zu versetzen, die das Leben vergewaltigt und gar nicht ohne Schäden durchgehalten werden kann?

Die Antwort kann nicht allgemein gegeben werden, weil sich die einzelnen Teilnehmer recht verschieden verhalten und von außen auch nicht eindeutig beurteilt werden können. Letzlich muß sich jeder selbst kritisch fragen, ob ihn die Emotionalisierung im Stadion oder auf der Fanmeile übermannt hat und ob er die Wochen der Weltmeisterschaft in einem ununterbrochenen Ausnahmezustand verbracht hat. Ich kann hier nur auf die Gefahr aufmerksam machen, die grundsätzlich mit Massenveranstaltungen gegeben ist und die auch von Sozialpsychologen kritisch beschrieben wird, daß nämlich der Verstand und die persönliche Verantwortung des Einzelnen zugunsten eines erregten Gefühls abdanken muß. Es gibt, wie schon der Name "Fan" nahelegt, einen Trend der Masse zum Fanatismus.

Nun ist sicher der Verstand nicht der einzige Maßstab im Leben und manchmal ist es wirklich eine Erholung für die Menschen, wenn sie mit ihren Grübeleien für eine Zeit zur Ruhe kommen und einfach jubeln können. Man würde aber beruhigter beim Jubeln in der Fußballarena sein, wenn man den Eindrück hätte, daß im gesellschaftlichen Alltag die anfallenden Probleme gelöst werden, daß also z.B. die Politiker ihre Entscheidungen zufriedenstellend getroffen haben, bevor sie im Stadion mitfeiern, daß die Unternehmen nicht nur den Fußball sponsern, sondern sich auch sonst um die Gesellschaft und nicht nur um ihren Profit sorgen und schließlich, daß die Menschen im Land auch in normalen Alltagssituationen miteinander rücksichtsvoll und hilfsbereit umgehen und nicht nur in einer genau definierten Ausnahmesituation eines Events. Etwas mehr von der Solidarität einer Fußballmannschaft könnten wir in unserem wirtschaftlichen und sozialen Alltag schon gebrauchen. Wir wissen alle, daß es daran in der neuen Welt des globalisierten Kapitalismus fehlt, und dieser background kann dem fröhlichen Fußballfest einen bitteren Beigeschmack geben.

Bezeichnenderweise kommt gerade zur Weltmeisterschaft die Nachricht, daß der multinationale Versicherungskonzern Allianz trotz Milliardengewinne im letzten Jahr die Entlassung von 7500 Arbeitskräften plant. Die Gewerkschaft versucht dagegen zu halten und droht mit Streiks. Die Politik wird sich vermutlich wieder einmal als für nicht zuständig erklären trotz 5 Millionen Arbeitsloser. Das ist die andere, die trostlose Seite von Deutschland-einig-Fußball-Land.

Der Verdacht ist also nicht ganz von der Hand zu weisen, daß auch bei vielen Fans nicht einfach nur ein harmloses Fußballfest gefeiert wird, sondern handfeste Verdrängungen im Spiel sind. Die triste soziale Misere, die persönliche Unsicherheit und Perspektivlosigkeit werden für kurze Zeit weggeschoben, indem beim Fußball Spaß und Gemeinsamkeit gesucht werden, wie es sie in der globalen Welt des Neoliberalismus, des knallharten Wettbewerbs, für viele längst nicht mehr gibt. Wenigstens beim Fußball möchte man einmal zu den Gewinnern gehören. Dafür werden dann Stars und Mannschaften mittels Projektion in den Himmel gehoben, damit man sich anschließend selbst, mittels Identifikation, bedeutend und wichtig erfahren kann, obwohl man im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltag überhaupt nicht mehr mitzählt.
(vgl. das Schaubild Identifikation und Aggressivität)

So könnte man die Fußballweltmeisterschaft also auch sehen, und jeder Fan mag sich fragen (vielleicht erst nach dem Event), ob diese Sicht auf ihn ganz persönlich zutrifft. Manche Zeitgenossen werden hier allerdings einwenden, daß diese neptunische Art der Problemverdrängung durch Identifikation immer noch besser ist als der aggressive uranische Weg, wo nicht Idole angehimmelt, sondern Sündenböcke verfolgt werden. (Und vermutlich sieht hier auch der Kulturforscher Theweleit den zivilisatorischen Fortschritt beim Fußball.) Es ist aber durchaus möglich – und auch das hat der Fußball schon gezeigt – daß das eine Verhaltensmuster in das andere übergeht. Gemeinsam ist nämlich beiden Mustern, daß die Realität, die ja immer gut und schlecht zugleich ist, nicht so angenommen wird, wie sie ist. Man müßte Verantwortung (Steinbock) übernehmen und sich um die Probleme kümmern, bei sich selbst und in der Gesellschaft. Und eben das ist unbequem und wird vermieden. Mal auf die eine, mal auf die andere Art.

Auf die emotionalisierte Masse ist letztlich kein Verlaß. Sie kann auch schnell zum Mob werden. Hoffen wir, daß es dieses Mal bei der neptunischen Identifikation bleibt, auch dann, wenn Deutschland nicht Weltmeister wird. Aber zu wünschen wäre noch mehr, daß nach der Weltmeisterschaft eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft entsteht, die die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Rahmen der Globalisierung löst. Das wäre meiner Ansicht nach die wirkliche Balance der Energien von Uranus und Neptun.

 

Rolf Freitag, Schule für Psychologische Astrologie in Heiligenhaus, 2006

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